27.08.2023 Es lebt 1.0

Mitte Juli habe ich meine Chemie- und Physikerweiterung abgeschlossen. Bestanden. 

Insgesamt 23 Bestrahlungen und 4 Chemotherapien habe ich hinter mich gebracht. Viele fragten mich oft, wie ist das so, wie läuft das ab?

Nun, die Bestrahlung hatte ich praktisch täglich. Jeweils einmal pro Woche wurden die Termine vom Personal für die kommende Woche festgelegt und ordentlich in mein, zur Therapie zugehöriges Muttiheft eingetragen. Wir hatten uns mal irgendwann auf Termine morgens geeinigt, damit der Tag nicht so zerfleddert ist. Täglich pünktlich in der Radiologie angekommen, wurde ich meist auch schon 5 min später aufgerufen. Kennen wir alle: „ Herr Höööööfel bitte Kabine Ahains“. Na denn, Oberkörper frei, Brille, Krone, Kettchen weglegen, Guten Morgen Frau Holle, Guten Morgen Frau Halle, Guten Morgen Frau Helle, Guten Morgen Frau …. je mehr Namen ich mir gemerkt hatte, umso mehr fröhliches Gekicher. Man legt sich auf eine, nennen wir es Bahre, nur die hier ist todschick, weil aus Carbon. Auf dem Körper trägt man ein zu Therapiebeginn aufgebrachtes, unabwaschbares System aus Strichen, Kreuzen und Punkten. Die Topographie des Schlachtfeldes praktisch. Danach wird die Bahre samt Schlachtfeld millimetergenau unter der am Kopfende darüber befindlichen Strahlenkanone ausgerichtet. Ist der lokalisierte Schützengraben der Zecke im Visier, wird ein kurzer, intensiver Strahl dorthin geschossen. So meine Vorstellung weil: sieht man nicht, hört man nicht, merkt man nicht. Ich habe mich immer darauf gefreut und mir in dem Moment vorgestellt, wie die Zecke nun von einem grellen Lichtstrahl durchbohrt wird, wie es ringsum sie zischt und dampft und faucht. An anderen Tagen lieferte mein Kopfkino mir ein fettes Photonentorpedo, direkt von der Brücke der Enterprise höchstpersönlich von Cpt. James T. Kirk abgefeuert. Und manchmal war es ein Teppich aus Lischtschwerten die vom Himmel in ihren verdammten Schützengraben hinabsausten. Und manchmal habe ich verbranntes Insekt gerochen. Dauerte täglich nie länger als 10 Minuten. 

Zeckengrill

Die Chemotherapie hatte ich einmal wöchentlich, Mittwochs. Dann gab es ein „Guten Morgen“ in der Onkologie, …“gehen Sie schon mal hinter ins Labor und lassen sich einen Zugang legen“. Dann ein Plätzchen in einen der Fernsehsessel neben all den anderen Pechvögeln gesucht und los ging es: Löwenzahnsirup, Vitamin E Komplex und …, ihr wisst schon. Die Tröpfe werden hintereinander verabreicht, am Ende nochmal 15 Min. gespült. Ich hatte immer ein Buch mit und vom ersten Moment an gelesen. 40-60 Seiten, dann übermannte mich stets eine Art Müdigkeit, nicht unangenehm aber zu viel um weiter lesen zu können, zu wenig um zu schlafen. Das dauerte meist so um 4-5 Stunden, dann noch rüber ins Physikkabinett die Zecke kurz grillen und ab nach Hause. Eine Woche später der selbe Ablauf. Was mich echt schockiert hat ist die Tatsache, dass ich die 40-60 Seiten immer wieder neu gelesen habe weil ich nicht mehr wusste, was ich gelesen habe. Heisst, ich habe zu jeder Chemo das Buch von vorn begonnen. Heute ist das leider immer noch so. 

Klar geht so ein Stellungskrieg nicht ohne blaue Flecken ab. Manchmal fühlte ich mich während dieser Zeit, als hätte ich eine Nachtschicht an einem Hochofen verbracht. Ich war einfach kaputt, ausgepumpt, wo ist der Eingang zu meiner Höhle. Nur noch Rückzug dorthin und schlafen. Es gab Tage, an denen habe ich die Höhle nicht oder sehr selten verlassen, wollte niemanden sehen, nicht gesehen werden. Wo ist der Eingang? Dort, nichts wie rein und Tür hinter mir zu. Dennoch kann ich sagen, dass ich irgendwie Glück hatte. Mir ist kein Haar ausgefallen, ich hatte keine Hautverbrennungen, ich litt nie unter Appetitlosigkeit, musste keinen dieser Tage erleben, an denen man nicht nach seiner Höhle sondern nach dem schwarzen Loch sucht, worin man einfach für immer verschwinden will. 

An den anderen, besseren Tagen habe mich benommen, wie jeder andere, spießige Vorstadtbewohner: Rasen mähen, Abfalltonnen nach Farbe sortieren und ausrichten, Essen für alle kochen, Flaschen wegbringen. Ja, Flaschen wegbringen. Freunde, ihr könnt euch nicht vorstellen wie sehr ich dabei schmunzeln musste. Wann Bitteschön hatte ich je Zeit um Flaschen wegzubringen? Bisher wurden sie „auf dem Weg“ irgendwie im Auto geparkt. Tage später erinnerten sie mit ihrem süsslich-gärigen Geruch an sich. Also nächstbeste Gelegenheit genutzt, um sie „auf dem Weg“ irgendwo gegen volle einzutauschen. Wieso sind manche Dinge so? Haben wir alle Stress, dauernden Zeitmangel? Nö, das ist eher verschriebenes Verhalten. Es ist nicht erlaubt, seine kostbare Zeit mit solch banalen Dingen zu verbringen. Sowas machen nur Leute, die zu viel Zeit haben.

Ich bin viel während und nach der Therapie mit dem Rad gefahren. Weniger wegen des guten Gewissens sondern eher, weil ich da einfach Lust drauf hatte. Von Mildendorf bis Klinikum und zurück waren täglich 50-55 Minuten auf dem Rad.

Wir besuchen das Schloß Mosigkau und ergattern Sonntags sogar eine Führung. Ich bin mir sicher, ich war dort als Schüler im Rahmen eines „Wandertages“ zum letzten mal. Der jetzige Besuch war natürlich nicht meine Idee sondern Claudias: „zeig mir mal, was Dessau und Umgebung denn so zu bieten hat“. Ich bin mir sicher, der „Wandertag“ damals war voll langweilig, heute hat mir der Tag, das Schloß echt gut gefallen. Freunde, wir sind zu Hause. 

Wir fahren mehrmals zum Baden nach Sollnitz, in den Seen rechts der Straße, wenn man aus Mildendorf kommt. Es führt ein gut ausgebauter Radweg von Mildendorf vorbei an Kleutsch durch den Totwald bis nach Sollnitz. Immer sind wir dort allein, Ministrand, klares Wasser, herrlich. 

Wir unternehmen einen Tagesausflug nach Quedlinburg. Die B6N ist zur Autobahn befördert worden und heißt jetzt A36 (oder so ähnlich). So braucht es von Mildendorf bis Quedlinburg Altstadt nur 1h 20min. Leider nur einen Tag aber nach dem beschließen wir, dass wir im Oktober nochmal für eine Woche diese Stadt besuchen werden, wenn nichts dazwischen kommt. Vielleicht erinnert sich jemand daran, dass ich im Februar diesen Jahres über die Stadt York in UK geschrieben habe: … „man glaubt, man sei in Limburg an der Lahn oder in Quedlinburg“. Die Stadt ist einfach nur wow und liegt praktisch direkt vor der Haustür. 

Sechs Wochen sind nun seit Chemo und Bestrahlung vergangen. Es waren verordnete sechs Wochen Nichtstun um die Bombenhagel, Lichtschwerter und Photonentorpedos im Schützengraben der Zecke nachwirken zu lassen. Mir geht es gut aber ich fühle, das Vieh ist nicht verreckt. Keine Beschwerden in dem Sinne, keine richtigen Schmerzen oder andere Symptome. Nur das Gefühl. Es lebt. 

Etwa in der Mitte der sechs Wochen gab es das erste Gespräch mit dem „falschen Sanitäter“ (Chirurg), einer meiner Kriegsherren in Weiß. Das Gespräch war sehr ernüchternd, ungeschönt, ohne Schmus. Autsch. Aber danach wusste ich, dass ich bei ihm bestens aufgehoben bin. Der Mann hat den Mumm zu sagen, worum es geht auch auf die Gefahr hin, dass ich wegrenne. Ja, mit ihm will ich die Zecke endgültig erledigen. Und sympathisch ist er obendrein. Also beste Voraussetzung für Runde Drei im Stellungskrieg. Wir einigen uns darauf, dass ich am 28.08. im Klinikum Dessau aufgenommen werde. Ein paar Taschentücher darf ich mitbringen, der Rest ist alles da. Dann wir das Schlachtfeld final untersucht und ausgewertet, wieviel auf die Dreckfresse gab es denn wirklich für die Zecke. Die Untersuchung erfolgt unter einem sogenannten PET-CT: Zecken und ihre Freunde gieren nach Zucker. So bekommt man ein im CT sichtbar werdendes Zuckerpräperat gespritzt und das Gerät leuchtet einmal den definierten Bereich ab. Da wo ordentlich Zucker gehortet wird, sitzt die Zecke oder ihre Geschwister. Man kann an Hand der Intensität der Zuckerkonzentration somit recht zuverlässig Daten über Standort, Größe usw. des Tumors ermitteln. Meine Untersuchung ergab durchweg positives: sie hat ordentlich was auf die Fresse bekommen, ist geschrumpft, alle MG Nester in unmittelbarer Nähe (Lymphknoten) sind ohne Besatzung und das Beste, sie hat keine Gelegenheit mehr gehabt, ihre Verstärkung (Metastasen) zu rufen. Aber: es lebt. Trotzdem wunderbare Nachrichten, das Warten darauf, die Ungewissheit in den vergangenen Wochen eine echte Qual.

Dann wird im Kriegsrat final entschieden, wie, wo, womit und in welchem Umfang die Zecke herausgeholt wird. Als maximal sicher hat sich heutzutage erwiesen, wenn nicht nur die Zecke sondern auch weite Teile ihres Schützengrabens entfernt werden. „Das wird kein Ponyausflug, das ist echt Ernst. Aber es ist machbar“ meint Prof. Skalpell. 

Es ist der 28.08. abends gg. 21.00 Uhr. Ich sitze hier in meinem Klinikum „Appartement“, draußen klappern die Pflegerinnen mit Geschirr, irgendwo piept ein Alarm. 

Es ist alles besprochen, alles geklärt, alles abgewogen, für alle möglichen, kommenden Fälle gesorgt. Morgen früh geht es in die OP. Ich finde keinen Schlaf in dieser Nacht. Ich habe Schiss, einfach nur Riesenschiss. 

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