10.09.2023 Es lebt 2.0

Irgendwo aus der Ferne vernehme ich ein rhythmisches Piepsen. Erinnert mich an die Überwachungsmonitore in Krankenhäusern, welche man aus Filmen kennt. Habe ich den Fernseher nicht aus gemacht? Piep, piep, piep. Da höre ich ein Klacken. Dunkelheit. Wieder dieses Piepsen, es ist Nacht, ich blicke über die erleuchtete Skyline einer Stadt. Claudia, stehst du da im Raum? Piep, piep, piep, … „ob ich Schmerzen habe“, … wer fragt mich das und wieso? Ich sehe niemanden, Dunkelheit. Ich erkenne die analoge Uhr über der Tür: 04.45 Uhr. Ist es 04.45 Uhr Morgens oder Nachmittags und wenn, welcher Tag ist heute wo? Dunkelheit. „Wie geht es ihnen?“ Schon wieder so eine Frage deren Steller ich nicht sehe. „Gut“ antworte ich. Irgendjemand steht neben mir und drückt irgendwelche Knöpfe. Warte noch kurz Dunkelheit: du bist Thomas, du wurdest operiert, Krebs, du bist im Klinikum in Dessau, eine erste Freudenträne: es lebt, das Thomas. Dunkelheit. 

Am Dienstag den 29.08. gegen 08.00 Uhr beginnt die Narkose zu wirken. Mein letzter klarer Gedanke ist der Anblick und der Geschmack von Nettis Rinderroulade mit Rotkohl und Klößen. Wow, besser kann man nicht hinübergleiten, egal wohin. 

Wirklich erwacht bin ich am kommenden Mittwoch gegen Abend, etwa 30 Stunden später. Die Zeit dazwischen war ein ständiges Schweben zwischen den Welten, nicht unangenehm, gefangen in einem Zustand zwischen Dämmerung und Morgengrauen. Später erklärt man mir, dass eine Narkose die größtmögliche Komfortzone für uns darstellt. Stimmt, so habe ich es auch erlebt. Das wäre die Idee für ein Startup: „Narkose to go, bestellen sie sich noch heute ihren kleinen Urlaub vom Tag, wann und wo sie wollen“.

Die OP dauerte 6 Stunden und verlief ohne Komplikationen. So teilte es mir Prof. Skalpell am kommenden Tag mit. Eindeutig mein Held. 

Ich verbringe die ersten vier Tage auf der Intensivstation. Wer denkt, die Intensivstation ist ein brodelnder Kessel voller Ärzte und Schwestern, Kommissaren die Befragungen durchführen und ständigen Entscheidungen am Limit der irrt. Das zeigt uns so Hollywood & Co. 

Die Realität: pro Bett eine Schwester, hochqualifiziert, akzentfrei deutsch sprechend, erfahren, ungespielt freundlich, mit der nötigen Gelassenheit bei den unvorhersehbaren und unschönen Aufgaben dieses Jobs dabei und in meinem Fall zufällig alle durchweg hübsch. Das selbe gilt für alle Pfleger auf der Station, außer das mit dem hübsch, das kann ich nicht beurteilen. Alles läuft ruhig und sehr professionell ab. Das Ärzteteam besteht aus Spezialisten aller wichtigen Fachrichtungen. Was ist noch der Unterschied von Intensiv- zu Normalstation? Eins weiß ich heute, auf Intensiv sind die Schränke voller, es gibt von allem so viel, wie benötigt wird, alle Aufheller (Schmerzmittel) sind Premium und ohne Limit. Schmerzfrei kann das Danach nach so einem Eingriff nicht ablaufen aber weitestgehend schmerzarm. Man lernt recht schnell sich damit zu arrangieren und die nicht so schmerzarmen Phasen wegzuatmen. Prüfungszeit, immer noch. Ein Schluck Tee und ein Sonnenstrahl auf die Bettdecke werden zum Highlight des Tages. Nachdem ich den Status „Intensiv“ verloren habe, da ich aufstehen und mich bewegen kann und nicht verstört wirke, werde ich leider auf die „normale“ Station verlegt. Schade aber selbst schuld.

Aussehen und fühlen tue ich mich wie ein Cyborg oder wie eine Falcon9 vor dem Start. Eine Unmenge an Schläuchen steckt in mir und lässt ständig irgendetwas in mich rein- oder rausfließen. Treibstoff rein, Kühlmittel raus? Tatsächlich wird viel aus mir rausgeleitet, Zeugs was da irgendwo entsteht, entstehen muss aber nicht willkommen ist. Dafür braucht es etliche der Schläuche. Da man mir ja einen Teil des Flures zur Speisekammer entfernt hat, musste dieser wieder mit der Speisekammer verbunden werden. Das wird einige Tage dauern, ehe das alles wieder zusammen gewachsen ist und funktioniert. Bis dahin werde ich künstlich ernährt. Dafür ist ein weiterer Schlauch. Was mich da ernährt ist schneeweiß und erinnert ein bisschen an Wandfarbe. Für mich ist das Schnitzel mit viel Blumenkohl, mikroskopisch klein püriert, damit es durch die Nadel passt. Und es funktioniert, ich nehme nicht zu, verliere aber auch kein Gewicht, habe kein Hunger- und kein Durstgefühl. Es ist mehr der Appetit, der Hiper auf etwas, der sich manchmal meldet. Eine Schwester erzählte mir, einer ihrer Patienten hat irgendwann mal gebratene Hähnchen über seinem Bett fliegen sehen und danach gegriffen. Wahrheit oder Geschichte? Wen kümmert es, einmal schmunzeln und wieder vergessen. 

Und als Sicherheitsleine liegt noch ein Schlauch direkt vom Magen nach außen. Der entlässt zu viel getrunkenen Tee, könnte mich auch im Zweifelsfall ernähren und hat noch andere Funktionen. Dumm ist nur, dass der aus meiner Nase lugt und gegen unbeabsichtigtes Herausziehen dort festgenäht ist. Keine Ahnung, wie oft dieses Ding schon irgendwo hängenblieb und ich mich fühlte, wie der Ochse am Nasenring. Wenn ich den erwische, der mir einen Schlauch an der Nase festgenäht hat, der kriegt eine fette Backpfeife. Alle die ich hier bisher dazu befragt habe versicherten mir, sie waren es nicht. 

Eigentlich wäre ich diesen einen, sehr unangenehmen (nicht schmerzhaft) Schlauch schon los aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste meint Professor. Flur und Speisekammer haben sich noch nicht endgültig zusammengefunden, fremdeln noch ein bisschen. So bin ich jetzt sozusagen in Standby, bis zusammengefunden hat, was zusammengehört. Hoffen wir, dass das die einzige Komplikation bleibt und sie schon morgen nur noch ein Geschichtseintrag ist.  

Zwischenzeitlich musste ein Teil der Schläuche tapfer sein weil sie nun ohne mich auskommen müssen.

Es gab großartige Neuigkeiten aus der Pathologie (Labor): 0 von 21 der entfernten Lymphknoten sind zeckenbelastet, der mit entfernte Schützengraben ist auch zeckenfrei, die Zecke selbst hat keine heimlichen Munitionslager hinterlassen, welche die Chemotherapie überlebt hätten. Und sie selbst? Sie ist tot, endgültig. Zerlegt in viele kleine Teile, eingesperrt in ihr einsames, gläsernes Grab kann sie nur noch unter einer Laborlampe von Interessierten und Lernenden angesehen werden. Ich hoffe, auch noch einen Blick drauf werfen zu können.

Danach gab es viele, viele, viele Freudentränen in meinem Gesicht: es lebt, das Thomas. 

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(2) Kommentare

  1. Heidi Richter

    Es habe es schon von Claudia gehört.
    Das ist das Großartigste was man nur hoffen konnte und nun ist es Wirklichkeit.
    Welch eine schöne Nachricht.
    In Gedanken bei Dir.
    Wenn ich wieder in Dessau bin, werde ich dich sofort aufsuchen.
    GLG Heidi

  2. Silke

    Das sind ja tolle Neuigkeiten! Pheww…das war ja ein echter Monstersturm im Leben, den du da erfolgreich navigiert hast.
    Ich bin so froh fuer euch beide…sehe euch hoffentlich im Dezember.
    Liebste Gruesse aus Suedafrika, Silke

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