Es hat sich bis hierher alles so gut gemacht. Zu früh gefreut? Nein, definitiv nicht. Die Zecke ist hin und wie es scheint auch so, dass sie in absehbarer Zeit nicht wieder aufleben wird. Zumindest nicht diese Zecke. Aber was heisst absehbare Zeit? Wenn heute der selbe Prozess startet, den es brauchte, um diese Zecke in mein Leben zu rufen und sie auf diese Größe und Gefährlichkeit heranwachsen zu lassen, dann wird das zwischen 15 und 25 Jahren dauern. Das Alter meiner getöteten Zecke wird auf mindestens 15 Jahre geschätzt, eher älter. Sollte sie also jemals wieder auferstehen und ich lebe noch, dann bin ich wahrscheinlich über 80 Jahre alt.
Was ich aber nicht wusste ist die Tatsache, dass eine Zecke nicht einfach so die Bühne verlässt, sonst wäre es ja keine Zecke. Sie hat Minen vergraben um selbst nach ihrem Abgang noch fiese Schäden anrichten zu können. Leider bin ich genau auf eine dieser Minen getreten beim Versuch, das Schlachtfeld jubelnd zu verlassen. Noch einen Schritt weiter und es hätte Krawums gemacht. Aber Zum Glück haben meine Kriegsherren das Klicken des Auslösers der Mine gehört und sofort „Stooooooop“ gerufen. So stehe ich nun hier auf der Mine, kann nicht vor und nicht zurück, eine falsche Bewegung und es endet in einer Katastrophe. Klingt reißerisch, ist aber leider so, nüchtern, sachlich, Lage der Fakten.
Somit bin ich praktisch von der einen Klinge gesprungen und dummerweise direkt auf der nächsten gelandet: Speisekammer und Flur wollen nicht so richtig zusammenfinden. Die neue Verbindung ist nicht dicht. Die gestern noch kleine Komplikation hat sich zwischenzeitlich zur „Mittleren“ entwickelt. Warum aber gleich Potential zur Katastrophe? Wird das nicht bemerkt und es gelangt Mageninhalt in den Bauchraum, kommt es zum toxischen Flächenbrand, Löschen für die Werksfeuerwehr unmöglich. Immerhin gab es für mich zwischenzeitlich, genau genommen nach 26 Tagen, wieder das erste, feste Stück Nahrung. Einer der billigsten von den günstigen Joghurts aber es war ein Genuss. Mindestens 2 Michelin Sterne. Nun wird die angefangene „Wiederinbetriebnahme“ meines Verdauungsapparates sofort beendet und augenblicklich wieder auf „künstlich“ umgestellt.

Mein Trost: Prof. Scalpell meinte „andere Patienten sind an dieser Komplikation gestorben oder werden sterben und ich habe nicht mal Fieber“. Also mal hoch das Köpfchen und ein fröhliches Lied auf dem weiteren Weg gesummt.
Man hilft künstlich nach, um das Leck abzudichten und beim natürlichen Zusammenwachsen zu unterstützen. Das braucht Zeit. So vergehen die Tage im Appartement mit Seeblick langsam und ohne Spektakel. Aber auch ohne nennenswerte Beschwerden, umgangssprachlich: „ich habe nichts auszustehen“. Nach einigen Tests wurde meine künstliche Ernährung wieder auf Natur mit Einschränkung umgestellt. Freunde, das Klinikessen erfüllt alle gängigen Klischees die es nur erfüllen kann. Von Grusel über Ungenießbar bis zu Höchststrafe ist alles vertreten. Manchmal, wirklich nur manchmal, da scheint es so als hätte für ein paar Stunden ein Koch dort mitgearbeitet. Irgendwie liegt da ein großer Logikfehler vor. Was Ärzte und Pflegepersonal mühsam und mit viel, viel Engagement schaffen, wird mit einem Wisch (Gruß) aus der Küche wieder zunichte gemacht. Claudia versorgt mich mit handgemachten und -verlesenen Kalorienbomben. Durch den häufigen Wechsel der Ernährung innerhalb der vergangenen Wochen habe ich doch nennenswert Gewicht eingebüßt. Das muss irgendwie schnell wieder drauf. Viele bieten mir an, ich könnte gern ein paar Kilo von ihnen nehmen. Würde ich gern, wüsste ich nur wie.
Nach reichlich drei Wochen wird die künstliche Unterstützung entfernt. Endet heute die emotionale Achterbahnfahrt? Wenn ich eins gelernt habe dann das, dass das Warten in Ungewissheit enorm kräftezehrend ist. Ist die Stelle dicht oder nicht und vor allem was ist, wenn nicht, wie sieht Plan C und D aus? Die ersten Untersuchungen scheinen vielversprechend. Scheint so, als hätte nun zusammen gefunden, was zusammen gehört. Wieder eine Freudenträne als ich allein im Appartement Seeblick bin. Es hätte so vieles schief gehen können.
Klick, diesmal höre ich es auch. Besser ich fühle es. Noch in derselben Nacht nach den neuerlichen Freudentränen klickt wieder der Auslöser einer Mine. Auf dem Display des Fieberthermometers steht als erste Ziffer eine Vier. Hell, grell, bedrohlich rot blinkend will sie mir geradezu ins Gesicht springen und ich kann die schiere Wut in ihr sehen. Die Wut der Zecke.
Licht an, viele Leute, viele Stimmen, viel Aufregung. Ich schwebe irgendwo etwas abseits, will den ganzen Rummel nicht hören aber irgendwie geht es doch um mich. Wieso, woher, was ist passiert höre ich aus der Entfernung. Fühle Ratlosigkeit, Unsicherheit. Der Tanz des Lebens beginnt erneut. Etwa doch undicht und nun ist das was nicht sein darf doch passiert? Das extrem hohe Fieber passt zur Theorie der Vergiftung. Das ich vorsorglich seit zwei Tagen nichts gegessen und getrunken habe spricht aber eindeutig dagegen.
Ich habe die Nase voll. Gestern fühlte sich alles noch so zuversichtlich an? Wieso schon wieder ich? Schmerzliche aber nüchterne Einsicht: es ist eben so. Kurzer Blick auf meine Akkus: kurz vor Leer. Viel ist da nicht mehr drin, um eine erneute Mine wegzustecken. Die müssen dringend geladen werden.
Man hat mich auch vor ein paar Tagen vom letzten der lästigen Schläuche befreit. Liegt da die neuerliche Mine vergaben? Glück im Unglück, ja. Eine illegale Müllhalde hat sich dort gebildet, wo einst der Schlauch lange saß. Professor Skalpell zögert nicht lange. „Wir entlasten das sofort und sehen, ob und wie sich mein Zustand ändert“. 30 Minuten später sind meine Akkus erschöpft, ich kann nicht mehr. Die Schmerzen beim Versuch, die Müllhalde zu beseitigen sind deftig heftig, Heulsuse Thomas kurz vorm Zusammenbruch. Noch am selben Tag überreicht mir der Professor meine Einladung zur erneuten OP. Er hat einen Teil des Tages mit Bildern und Befunden aus meiner Patientenakte verbracht, um am Ende so zu entscheiden. Und innerlich weiß ich, dass er richtig entschieden hat. Ein ausgesprochen kluger Kopf voller Erfahrungen und dem Vermögen, intuitiv zu entscheiden. Unbezahlbar. Es ist Freitag Spätnachmittag und er lässt sein Wochenende erst beginnen, wenn er mich versorgt weiß. Mein Held.
Gegen 20.30 Uhr liege ich im Aufwachzimmer nach der OP. Neben mir piept es wieder, ich vernehme Stimmen in der Nähe. Sanft fragt mich jemand, wie es mir geht.
Offengestanden keine Ahnung, ich muss erstmal fühlen wie es mir geht. Ich habe kein Fieber mehr, wie weggeblasen, Schmerzen: Fehlanzeige. Akku Zustand: viertel voll. Wie geht das? Noch vor drei Stunden blickte ich in einen finsteren Abgrund. Es sind keine Fläschchen an mir angeschlossen, welche gurgelnd ihren Inhalt in mich entleeren und die Realität manchmal so wohlig süß verzerren.
Und dann höre ich sie wieder, die Stimme in mir, die innere Stimme. Die Stimme, welche mir vor ziemlich genau 20 Wochen sagte: „steige schleunigst in den nächsten Flieger nach old G. mein Freund und lasse dich untersuchen. Ich rassele nicht umsonst die Alarmglocken. Hörst du nicht auf mich, bist du im A…., Stornierung unmöglich. Und dieselbe Stimme sagt nun zu mir: „du bist vom Glück verfolgt mein Freund. Du bist jetzt über den Berg. Ab jetzt sitzt du im Erste-Klasse-Abteil und fährst ohne Umwege in dein neues, gesundes Leben. Du hast die besten Kriegsherren an deiner Seite“. Freudentränen? Nee, geht nicht, es sind zu viele bemühte Leute um mich. Aber nachher, wenn ich in meinem „Appartement Seeblick“ bin, dann freu ich mich auf sie.
Wir haben alle diese innere Stimme. Die einen nennen es Bauchstimme, die anderen unseren siebten Sinn. Und wir haben im Laufe unseres Lebens gelernt, sie auszublenden, wegzuhören, unserer vermeintlich unfehlbaren Logik den Vorrang zu geben. Unsere Kopfstimme können wir solange lenken bis sie passt, können wir formen, manipulieren bis sie unserer bequemen, erwünschten, eigenen Wahrheit entspricht. Unsere Bauchstimme ist dagegen oft unbequem, lässt sich nie bevormunden, bleibt unbeirrt bei der teils unerwünschten Realität. Sie ist zu Hundertfünfprozent ehrlich, lügt uns nie an, nicht im Guten wie auch im Schlechten.
Ich wünsche jedem die innere Ruhe, das Vertrauen und vor allem den Mumm, ihr zuerst zuzuhören.
Na da kann ich ja langsam das Bier kalt stellen zum begrüßen im neuen Lebensabschnitt
Glückwunsch Thomas es waren die schönsten Nachrichten des Tages
Hallo Thomas. Alles erdenklich Gute und ich hoffe Du irrst Dich mit der Wiederkehr, so dass Du locker die 100 erreichst.
LG